Gross, schwerfällig, traditionell, das sind die Assoziationen mit einem Stahlhändler. Auf Klöckner & Co., börsennotierter Stahl- und Metallhändler mit Hauptsitz in Duisburg, treffen diese Attribute jedoch kaum zu. Das Unternehmen gehört in Sachen Digitalisierung zu den Vorzeigefirmen der Stahlindustrie – auch wenn es dadurch die Branche disruptiert. Inspiriert von der Start-up-Szene im Silicon Valley, stellte Klöckner-CEO Gisbert Rühl mit seiner Wachstumsstrategie schon früh die Weichen zum regelrechten Innovation Leader im Stahlhandel. Heute erwirtschaftet Klöckner fast 50 % des Umsatzes mit seinen digitalen Kanälen.
Dies kommt nicht von ungefähr. Der Wandel, den Klöckner durchlief und immer noch durchläuft, ist geprägt von einer klaren Unternehmensvision: Volle Digitalisierung der Liefer- und Servicekette sowie Aufbau einer offenen Industrieplattform. So gilt Klöckner & Co heute als regelrechtes Musterbeispiel in Sachen Innovation und digitaler Transformation. Doch: Was können andere Unternehmen vom Stahlhändler lernen? Wie genau ging er vor? Folgende Vorgehensweisen haben sich als erfolgsversprechend erwiesen:
1. Digitale Transformation ist absolute Chefsache
Die Digitalisierung hat bei Unternehmen zwangsläufig tiefgreifende und nachhaltige Änderungen in Kultur, Organisation und Prozessen zur Folge. Die Verantwortung und Steuerung dieser Umwälzung dürfen weder lateral noch vertikal delegiert werden, sondern sollten intrinsisch durchlaufen. Klassische Ansätze des Change Managements bieten bei der Umsetzung eine nachvollziehbare Orientierung.
2. Moderne Arbeitsmethoden konsequent anwenden
Design Thinking, Lean Startup und agile Umsetzungsmethoden sind darauf getrimmt, in möglichst kurzer Zeit Kundenmehrwert zu identifizieren, zu überprüfen und zu realisieren. Um die Mitarbeitenden in diesen Methoden auszubilden, wurde bei Klöckner die «Digital Academy» gegründet. Die erfolgreiche und nachhaltige Einführung moderner Arbeitsmethoden basiert überwiegend auf einer durch Kollaboration und gegenseitigem Vertrauen gekennzeichneten Unternehmenskultur.
3. Langfristige Ziele setzen und mit kleinen Schritten konsequent anvisieren
Die meisten Big-Bang-Lösungen zur Etablierung von Plattformen scheitern, da sie entweder zu breit gefasst werden, keine wesentlichen Kundenvorteile liefern oder zu früh auf Monetarisierung anstatt auf Befeuerung des Netzwerkeffektes gesetzt haben. Erfolgversprechend sind hingegen kleine Schritte, die permanent auf ihren Kundennutzen hin untersucht und aus- bzw. umgebaut werden. Was beim Stahlhändler mit einem einfachen E-Shop begann, ist heute eine unabhängige Plattform namens XOM-Materials, die KI-gestützt eine Vielzahl der Prozesse automatisiert abbildet.
Plattform-Unternehmen als Ziel
In einem Interview im Mai 2020 beschrieb der CEO Gisbert Rühl die Strategie ganz deutlich: «Die sieben grössten Unternehmen der Welt sind Plattformunternehmen. Plattformunternehmen wachsen überproportional und haben geringere variable Kosten als traditionelle Unternehmen. Wir wollen dahin und gehen jetzt daran, unsere Kernprozesse vollends zu automatisieren. Unsere Mitarbeiter sollen ins Prozess-Design oder in unterstützende Prozesse. Amazon ist der grösste Retailer und beschäftigt keinen einzigen Sales-Mitarbeiter.»
4. Alle Anstrengungen konsequent User-zentriert ausrichten
Bei plattformbasierten Geschäftsmodellen darf der Aspekt «multi-sited» nicht vernachlässigt werden. Der Netzwerkeffekt funktioniert nur dann, wenn User auf der Plattform genügend Angebote wie auch entsprechende Servicepartner vorfinden, die z. B. sämtliche Logistikaufgaben übernehmen. Darum auch der Begriff «User» anstelle von «Kunden»: Der Fokus soll u. a. auf Möglichkeiten zur Identifizierung gelegt werden, Zutrittshürden gilt es abzubauen.
5. Konkrete Ziele und Messkriterien vereinbaren
Die meisten Plattformen werden gegründet, um eine branchenimmanente Systemschwäche zu eliminieren. Derartige Systemschwächen können u. a. langwierige Angebotsprozesse oder eine hohe Lagerkapazität bestimmter Fertig- oder Halbfertigprodukte sein, die sich nahezu unmittelbar auf die Bilanzkennzahlen und Kostenstrukturen niederschlagen. Sinnvolle Key Performance Indicators (KPIs) setzen genau dort an, indem sie die Branchenschwäche zur Unternehmensstärke transformieren, z. B. Halbierung der End-to-End-Durchlaufzeiten im Angebots- und Lieferprozess, Wachstumsvorgaben im digitalen Bereich für eine Zeitspanne von fünf Jahren etc.
6. Die Plattform für alle öffnen und in ein Ökosystem einbetten
Wenn man wie Klöckner konsequent digital in Richtung multi-sited-Platform transformiert, steht man irgendwann vor der Entscheidung, diese nur auf das eigene Unternehmen zu konzentrieren oder sie auf die gesamte Branche auszuweiten. Das Beispiel zeigt, dass die Plattformlösungen vor allem dann Mehrwert erzielen, wenn sie möglichst unabhängig sind: Sie sollten auch Investoren zugänglich gemacht werden – und ebenso Konkurrenten, die darauf Umsätze erzielen können. Mit der Aufnahme vieler Anbieter und Nachfrager sowie Dienstleister (z. B. Logistik, Zahlungsverkehr etc.) – ergänzt durch entsprechende Investorengelder – können nachhaltig profitable Ökosysteme entstehen.
Der Experte
Harald Beer
Harald Beer ist Senior IT-Consultant bei bbv. Er verfügt über langjährige Erfahrung in der Umsetzung von IT-Vorhaben – sowohl im klassischen, als auch im agilen Umfeld. Mit diesem Know-how berät Beer seine Kunden bei Produktvisionen und -strategien sowie beim agilen organisatorischen Set-up.
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